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Jahresthema 2025 Forum Basiliense: Leben im Anthropozän

Jahresthema 2025 Forum Basiliense: Leben im Anthropozän

Jahresthema 2025 Forum Basiliense: Leben im Anthropozän

Das Thema „Leben im Anthropozän“ steht im Mittelpunkt der kommenden Periode unseres Forums und wird im Jahr 2025 den intellektuellen Schwerpunkt für unsere Gruppe internationaler Stipendiaten und Gäste bilden. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde das Konzept des Anthropozäns in den Natur- und Geisteswissenschaften intensiv diskutiert. Es wurde entwickelt, um die Herausforderungen zu bewältigen, die durch die menschlichen, gesellschaftlichen und industriellen Umwälzungen und Veränderungen auf dem Planeten Erde entstehen. Zum ersten Mal steht die Menschheit vor einer jüngeren geologischen Periode, die wesentlich von den Spuren und Kosten menschlicher Aktivitäten bestimmt wird. In Fragen der Nachhaltigkeit, des Klimawandels, des Ausgleichs zwischen ökonomischen und ökologischen Erfordernissen werden die Fähigkeiten und Potenziale der Wissenschaft in einer möglichst breiten interdisziplinären Perspektive angesprochen.

Die Bezeichnung Anthropozän hat seit den 2010er-Jahren in Natur- und Umweltwissenschaften, in politischen und kulturellen Diskursen einen bemerkenswerten Bekanntheitsanstieg und Bedeutungszuwachs erfahren (Ellis 2018; Horn/Bergthaller 2022). Das Konzept wurde als kritischer Begriff geprägt nach dem Beispiel der Bezeichnungen für Schichten der geologischen Tiefenzeit wie Pleistozän (einer bis vor elftausend Jahren andauernde Periode ausgedehnter Vereisung) oder Holozän (die ‚oberste‘ Schicht und jüngste Erdperiode), um den alarmierenden Umstand auszudrücken, dass seit dem Eintritt in das Industriezeitalter und dem zunehmenden Verbrauch fossiler Brennstoffe der Mensch zu einem erdgeschichtlich dominanten Faktor, Verursacher irreversibler Eingriffe und Umgestaltungen geworden ist (Crutzen 2002; Chakrabarty 2023). Wörtlich genommen drücken diese geologischen Bezeichnungen für die Erdschichten aus, welchen Umfang die jeweils in ihnen stattfindenden planetaren Veränderungen erreichen; so war im Zeitalter der Vergletscherung ‚das meiste neu‘ (pleistos; kainos), im Holozän hingegen eigentlich alles (holos), insbesondere der Mensch, der in dieser Erdepoche sich entwickelte und die Erde zu bevölkern begann.

Wenn der Schweizer Schriftsteller Max Frisch seinem letzten Prosawerk 1979 den Titel gab „Der Mensch erscheint im Holozän“, um darin ein krisenhaft gewordenes Modell menschlicher Naturbeherrschung dystopisch auszuloten (permanente Regenfälle außen, dissoziative Bewusstseinsstörungen innen machen die erzählte Geschichte instabil), deutete sich darin die neue Standortbestimmung eines dynamischen und interdependenten Mensch-Umwelt-Verhältnisses

bereits an. Natur steht menschlichen Individuen und Gesellschaften nicht mehr als bloße Auftrittsbühne oder Arbeitsgegenstand gegenüber, sie ist selbst wesentlich menschengemacht, so wie umgekehrt das menschliche Wirken auf dem Planeten längst die Dimensionen einer geo- elementaren Kraft, vergleichbar mit Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Tsunamis, angenommen hat. Die unter dem Namen El niño bekannte periodische Makrostörung des meteorologischen Gleichgewichts ist dafür ein prominentes Beispiel; ebenso andere globale Indikatoren wie die Erwärmung von Ozeanen und Atmosphäre, der Rückgang der Biodiversität oder die Folgelasten atomarer Strahlung und Endlagerung.

Gerade das Phänomen der Halbwertszeiten radioaktiven Materials, bei dem die Folgefristen und Verantwortlichkeitszeiträume in die Dimension mehrerer zehntausend Jahre reichen, illustriert einen Grundzug der mit dem Begriff Anthropozän umrissenen kulturellen und politischen Herausforderungen: die Skalenproblematik. Zwischen individueller menschlicher Lebenszeit einerseits und den gesellschaftlich eingegangenen Folgewirkungen andererseits, die sich etwa aus dem Lebensstandard westlicher Industrienationen ergeben, besteht eine erhebliche, nicht zu überbrückende Größen- bzw. Skalendifferenz. Dasselbe gilt für den Abstand, der zwischen erlebter Selbstverantwortlichkeit und kumulierten gesellschaftlichen Effekten aufklafft. Oder überhaupt für die Divergenz zwischen lebensweltlichem Alltag und statistisch erfassbaren planetaren Makroeffekten, die sich etwa beim Thema „global warming“ manifestieren. So stellen die seit Anfang der 1970er Jahre (Club of Rome) artikulierten Warnungen großskalierte, abstrakte Szenarien dar, die mit individuellen Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten nur auf sehr vermittelte Weise in Beziehung gesetzt werden können.
Das vom Forum Basiliense für 2025 gewählte Jahresthema Leben im Anthropozän umreißt somit ein Problemfeld von eminenter Dringlichkeit, das wie kaum ein zweites in der aktuellen Wissenschaftslandschaft auf trans- und interdisziplinären Austausch sowie kollaborative Arbeitsmöglichkeiten angewiesen ist. Haben zunächst vor allem internationale Arbeitsgruppen der Erdsystemwissenschaften (Stratographie, Biologie, Ozean- und Atmosphärenforschung etc.) die Agenda bestimmt, so hat sich das Spektrum geforderter und beteiligter Disziplinen auch auf Sozialwissenschaften (u. a. Politik, Ökonomie, Recht, Nachhaltigkeitsforschung), Geistes- und Kulturwissenschaften (wie z. B. Ethik, kulturelles Gedächtnis und Umweltgeschichte, Ästhetik ‚nach der Natur‘, vgl. Böhme 2002) sowie auf Aspekte der Lebens- und Gesundheitswissenschaften ausgedehnt. Adressiert werden deshalb mit diesem Schwerpunktthema interessierte VertreterInnen der genannten und noch weiterer mitbetroffener Fachrichtungen.

 

Literatur:

Böhme, Hartmut: „Natürlich/Natur“. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2002, Bd. 4, 432-498.

Chakrabarty, Dipesh: One Planet, Many Worlds. The Climate Parallax. Chicago 2023.
Crutzen, Paul J.: The Geology of Mankind. Nature 415, 23 (2002).
Ellis, Erle C.: The Anthropocene, A very short introduction. Oxford 2018.
Haraway, Donna: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Durham, London

2016.
Horn, Eva / Bergthaller, Hannes: Anthropozän zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg 2022.
Latour, Bruno: Down to Earth. Politics in the New Climatic Regime. Paris 2018.
Moore, Jason W. (Hg.): Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of

Capitalism. Oakland 2016.
Whitmee, Sarah, et al.: Safeguarding human health in the Anthropocene epoch: report of The

Rockefeller Foundation–Lancet Commission on planetary health. Lancet (2015), 386; 1973- 2028.