Dr. Sebastian P. Klinger

Dr. Sebastian P. Klinger

Was bedeutet das Anthropozän für Sie?

Meiner Meinung nach bringt das Konzept des Anthropozäns ausserordentlich produktive Analysen der enormen ökologischen und soziokulturellen Krise unserer Gegenwart hervor, einer Krise, die eine Zäsur sowohl in der Erd- als auch in der Menschheitsgeschichte markiert. Auch wenn die Geologen der Internationale Kommission für Stratigraphie das Anthropozän noch nicht als offizielle geologische Epoche bestätigt haben und auch wenn Sozialwissenschaftler*innen und Philosoph*innen eine Fülle speziellerer alternativer Bezeichnungen vorgeschlagen haben, ist das Anthropozän als kulturelles Konzept hilfreich: Es trägt wesentlich dazu bei, die unzähligen miteinander verknüpften Probleme zu verdeutlichen, die auf menschliches geologisches Handeln zurückzuführen sind. Am deutlichsten wird dies beim anthropogenen Klimawandel und dem sechsten Massenaussterben. Um die Multidimensionalität dieser Probleme zu bewältigen, müssen neue Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit in einem noch nie dagewesenen Ausmass stattfinden.

Inwiefern spielt das Anthropozän eine Rolle in Ihrer Arbeit?

Die epistemischen Herausforderungen, die das Anthropozän mit sich bringt, sind dabei, sowohl die Geisteswissenschaften als auch den interdisziplinären Dialog zu verändern. Als Wissenschaftler, deren Arbeit die Literatur- und Kulturwissenschaften mit den Naturwissenschaften verbindet, befinde ich mich in einem langjährigen Austausch mit Disziplinen, die für das Verständnis unserer gegenwärtigen Lage entscheidend sind, aber traditionell kaum als wichtig für die Geisteswissenschaften angesehen werden, wie etwa die Erdsystemwissenschaften. Der Beitrag der Literatur- und Kulturwissenschaften zur gemeinsamen Bewältigung des Anthropozäns unterscheidet sich jedoch von dem der Natur- und Ingenieurwissenschaften: Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen sind Expert*innen für eine differenzierte historische und gesellschaftliche Kontextualisierung, Analyse und Kritik. Die Herausforderungen, mit denen wir im Anthropozän konfrontiert sind, sind deshalb so komplex, weil sie über rein technische Probleme hinausgehen - sie berühren den Kern der kulturellen und politischen Vorstellungskraft. Diese Tatsache in den Vordergrund zu stellen, ist eines meiner Hauptziele. 


An welchen Projekten arbeiten Sie während Ihres Stipendiums im Forum Basiliense?


Ich arbeite an meinem aktuellen Buchprojekt, das die Vorstellungen von der Bewohnbarkeit von Planeten in Wissenschaft und Fiktion untersucht. Menschen auf der ganzen Welt haben seit vielen Jahrhunderten über Bewohnbarkeit und Unbewohnbarkeit nachgedacht, aber das Anthropozän bringt diese traditionellen Wissensbestände radikal ins Wanken. Dies führt zu der Frage: Auf welche Weise verändert das Anthropozän das Verständnis der Bewohnbarkeit von Planeten? Diese Veränderungen werden in meinem Buchprojekt hinterfragt. Das Buchprojekt, das Ideen aus den Umwelt-, Wissenschafts- und Literaturwissenschaften zusammenführt, offenbart nicht nur eine reiche Kultur- und Literaturgeschichte, sondern bietet auch neue Einblicke in die Theorie der planetarischen Bewohnbarkeit.